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We got called out – guerillaclassics' interne Diskussion mit Sandeep Bhagwati

Wie können wir Diskussionen «hinter den Kulissen» und Prozesse, die zum Entstehen künstlerischer Inhalte führen, transparenter und zugänglicher machen? Denn es ist nicht nur das Schlussresultat, das zählt. Erst unsere Lernprozesse und Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Projekten, machen unsere Konzerte zu dem, was sie sind.

Dieser Podcast ist ein erster Schritt, Entstehungsprozesse zu dokumentieren.

Der Ursprung des Podcast: Im Herbst konnten wir den Komponisten Sandeep Bhagwati gewinnen, gemeinsam eine Neuauflage unseres WG-Formates zu starten.

Nach der ersten künstlerischen Sitzung wollten wir mit dieser Neuigkeit an die Öffentlichkeit: Denn der guerillaclassics Newsletter, der ca. alle 3 Monate erscheint, sollte versendet werden, die neue WG darin natürlich einen Platz haben.

So entstand ein erster Textentwurf, den wir Sandeep vorlegten und dessen Inhalt er in der Folge hinterfragte. Hier untenstehend findet ihr Auszüge aus dem digitalen Briefwechsel sowie die im Nachgang zum Newsletter aufgezeichnete Diskussion mit den Projektbeteiligten, die zu diesem Zeitpunkt feststanden: Sandeep Bhagwati, Hiromi Gut, Sandra Smolcic, Shanti Perpellini und Jakob Blumer.

Anleitung:

Bitte lest untenstehende Texte durch, bevor ihr euch den Podcast anhört:

Draft Newsletter-Text von guerillaclassics:

We are family – das WG-Projekt geht in die zweite Runde

Familie – das sind nicht nur Eltern, Geschwister und Grossi. Längst gehören auch Büsi und Freunde zum erlauchten Kreis der Wahlverwandtschaften. Spätestens seit Corona ist die family noch weiter gewachsen: Mit den Mitbewohner*innen teilt man schliesslich nicht nur Sofa und Kühlschrank, sondern auch Freuden, Sorgen oder die WG-Gitarre, die mangels Live-Konzerte endlich wieder entstaubt wird. Da entpuppt sich der Computer-Nerd auf einmal als junger Hendrix und die stille Mitbewohnerin macht unter der Dusche der Callas Konkurrenz. Auch wir sind gespannt, welche Melodien und Geschichten unsere Musiker*innen-WG erzählen werden. Denn Anfang Dezember geht das WG-Projekt in die nächste Runde. Mit dabei: Neu-Zürcher und Komponist Sandeep Bhagwati. Nach Stationen in Montréal, Oslo und Berlin, hat es ihn vor kurzem in die Schweiz verschlagen. Und was ist besser, um das neue Dihei kennenzulernen, als sich mitten rein in die Schweizer Kulturszene zu stürzen? Vier weitere Künstler*innen mit verschiedenen musikalischen und kulturellen Hintergründen werden mit Sandeep die imaginäre WG beziehen und während zwei Tagen gemeinsam proben, improvisieren und zusammenleben. Was dabei rauskommt? Komm vorbei und erlebe es selbst. Durchs Schlüsselloch schauen, am Küchentisch Platz nehmen oder dich gleich vors Kaminfeuer fläzen, Melodien mitsummen und Mailänderli mampfen: du entscheidest selbst, wie weit du dich ins WG-Leben einbringen willst.

Feedback von Sandeep Bhagwati:

Lieber Jakob

den Text finde ich an sich nett zu lesen, aber in diesem Kontext sehr problematisch, da er

1) ein Projekt mit Profimusikern irgendwie mit dem Singen unter der Dusche vergleicht. Mir machen solche Vergleiche an sich nix, aber ich könnte mir vorstellen, dass Musiker*innen, die sich sozial und kulturell eh schon etwas marginalisiert und kleingehalten fühlen, sich durch einen solchen Zusammenhang eher abgeschreckt fänden. Sie werden hier halt doch nicht als richtige Musiker*innen angepriesen, die tolle Sachen machen, sondern werden zu einer Art Hobbymusik mit Keksen gebeten…

2) Vom Sprachstil her: Hier passiert nichts wirklich Wichtiges, wir wollen uns nur amüsant ein wenig die Zeit vertreiben und Musikern beim Rumprobieren zugucken, während draussen der Virus tobt. So kommt der Text bei mir an. Natürlich muss es nicht der calvinistische Ernst der “ernsten Musik” sein – aber ganz so locker ist alles auch wieder nicht.

3) “We are family” als Titel, der Sister Sledge Hit aus den 1970ern (ich fühle mich gerade soooo alt, dass ich mich daran lebhaft erinnere) ist vielleicht dann wieder ein bisschen daneben – eine WG ist ja gerade eben NICHT eine Familie, das ist ja ihre raison-d’être, oder? Eine Wohnung, in der man sich mit den diversesten Leuten erst zusammenfinden muss, und zwar aus ökonomischen Zwang, nicht aus Liebe oder weil es nie anders war… “We are Family” klingt hier wie eine zynische Beschönigung….

Die Schweiz ist nicht frei von Kolonialismusdenken, und ein solcher Text wäre geradezu ein Musterbeispiel für eine Vorlesung in “white privilege” – wie macht man klar, dass man selber an den Verhältnissen nichts tun muss (und auch nichts dafür kann), und die anderen Kulturen nur dazu da sind, damit man sich gut fühlt…

Also vielleicht können Sandra und Du nochmal darüber nachdenken, was das Projekt eigentlich leisten soll….

Ganz herzlich

Dein Sandeep

Neuer Newsletter-Text von guerillaclassics:

Musiker-Findung | Musik-Erfindung – das WG-Projekt geht in die zweite Runde

Schon mal den Begriff Komprovisation gehört? Wir auch nicht – bis wir Sandeep Bhagwati getroffen haben. Vor einigen Monaten hat es den Komponisten nach Stationen wie Montreal, Oslo und Berlin nach Zürich verschlagen. Und nach dem ersten Treffen mit ihm war klar: it’s a match! Wir hätten uns niemand Besseren für die Weiterführung unseres im Sommer gestarteten WG-Projekts vorstellen können, bei dem es um den Austausch spannender Musiker*innen aus verschiedenen Musiktraditionen geht. Sandeep ist selbst Experte darin, Musiker*innen verschiedener Traditionen zusammenzuführen: Er hat nicht nur diverse Ensembles gegründet, die unterschiedliche Musiktraditionen in sich vereinen; ihm geht es vor allem auch darum, den Prozess der gemeinsamen Musikerfindung im Kollektiv zu erforschen. Heraus kommt dabei was? Ganz genau: spannende Komprovisationen, die neue Begegnungen und Inhalte zwischen Musiker*innen, Komponist und Publikum schaffen. Für alle, die Mühe haben, den Zungenbrecher auszusprechen, empfehlen wir: Tretet ein und hört einfach zu, wenn die WG im Dezember ihre Türen öffnet. Das WG-Casting ist übrigens noch in vollem Gange. Schliesslich hat die Schweizer Musikszene eine ungeahnte Vielfalt zu bieten. Vielleicht hat die ein oder andere von euch noch eine Idee, wer mit ihrer/ seiner einzigartigen Musiksprache in der Musiker*innen-WG keinesfalls fehlen sollte? Vorschläge, Inputs und Ideen sind willkommen.

Weiterführende Links:

Video “I’m Not Racist” von Joyner Lucas, auf das im Podcast Bezug genommen wird

Video guerillaclassics WG-Projekt, Juni 2020