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Letten Love – dein Liebesbrief vertont

Partizipation ist eines der Schlagwörter in der derzeitigen Kulturpolitik in Europa. Die Menschen, die Zuschauer*innen und Zuhörer*innen sollen Kultur nicht nur einfach konsumieren, sondern selbst mitmachen und aktiver Teil davon werden. Soweit die Theorie. Doch wie sieht es in der Praxis aus?

Gerade im Klassikbereich gestaltet sich das Thema kulturelle Teilhabe bisher als eher schwierig, wie guerillaclassics-Gründerin Hiromi Gut bemerkt. «Natürlich kann man den Konzertbesucher*innen nicht einfach eine Geige in die Hand drücken und sie zum Mitspielen ermuntern. Ein solches Instrument zu beherrschen setzt jahrelange Übung voraus. In anderen Musik- und Kunstsparten ist das schon etwas einfacher als in der Klassik.» Eigentlich könnte die Diskussion um das Thema Partizipation im Klassikbereich damit auch schon wieder beendet sein. Eigentlich. Denn gerade an diesen scheinbaren Sackgassen setzt guerillaclassics an. «Wir wollen klassische Musik zu den Leuten bringen, sie für alle erlebbar machen. Deswegen sind wir immer auf der Suche nach neuen Mitteln und Wegen, um das zu ermöglichen – und die können manchmal ziemlich ungewöhnlich sein.»

Als es im April 2019 an die Planung des ersten Klassik-Festivals in Zürich geht, steht daher eines fest: wo immer möglich, sollen die Besucher*innen miteinbezogen werden in die Gestaltung der Konzertabende.

Sechs Tage Musik stehen auf dem Programm, sieben verschiedene Locations in der Stadt sollen Ende Juni, Anfang Juli bespielt werden, darunter auch der Park Platz am Oberen Letten. «Der Zürcher Sommer ohne den Letten? Unvorstellbar. Am Letten spielt das Leben, am Letten tummeln sich die Menschen. Genau hier ein klassisches Konzert zu veranstalten, das war schon immer mein Traum», erklärt Hiromi Gut die Wahl der Location. So ungewöhnlich der Ort, so ungewöhnlich auch das Format, mit dem die Besucher*innen vom kühlen Nass der Limmat an den Park Platz gelockt werden sollen: Die Zuschauer*innen dürfen vor Ort Liebesbriefe- oder Gedichte schreiben, die dann noch am gleichen Abend von einem Komponisten und Sänger vertont werden. «Bei einem solchen Format kann wirklich jeder mitmachen. Man muss kein Profi am Klavier oder Kontrabass sein. Alles was es braucht, ist ein wenig Fantasie, Kreativität und den Mut, seine Gedanken auf Papier zu bringen.»

Ein klassischer Liederabend with a twist also? «So könnte man es auch nennen», stimmt Hiromi Gut bei. «Der Liederabend ist eines der traditionellsten Konzertformate, das den Musiker*innen nicht viel Spielraum lässt. Anders als bei Oper oder Schauspiel passiert auf der Bühne nicht viel. Jemand singt, wird am Klavier begleitet, das Publikum hört zu. Das aufzulockern und etwas ganz Neues daraus entstehen zu lassen, das war unsere Motivation und unser Anspruch.»

Und so trocken das Konzept Liederabend zunächst klingt, bietet es im Gegensatz zu anderen Formaten die Möglichkeit der Partizipation. «Jeder von uns hat schon einmal einen Brief oder ein Gedicht geschrieben. Das Schreiben ermöglicht es uns, unser Innerstes nach Aussen zu tragen. Dadurch kann so ein Liederabend aktueller und spannender sein als jede andere Art von Konzert.»

Auch Komponist und Pianist Edward Rushton sowie Bariton Jonathan Sells waren sofort Feuer und Flamme für das ungewöhnliche Konzertexperiment. «Wenn jemand das kann und wenn ich jemandem so etwas zutraue, dann diesen beiden», erklärt Hiromi Gut die Wahl der Musiker. Der Brite Edward Rushton hatte bereits zwei Jahre zuvor an der Tramhaltestelle am Stauffacher und vor der Fleischtheke in der Migros am Löwenplatz für guerillaclassics am Klavier gespielt. Für seinen Landsmann Jonathan Sells, ist es die erste Zusammenarbeit mit guerillaclassics.

Nach einem ersten Probelauf für den Teaser-Clip, sitzen Edward Rushton und Jonathan Sells an einem heissen Juniabend wieder gemeinsam am Klavier. Ein Container des Park Platzes wurde in eine Mini-Bühne mit mobilem Piano umfunktioniert, zahlreiche neugierige Besucher*innen nehmen auf den Stühlen und Sofas ringsum Platz. Die Luft flimmert, mancher Herzluftballon, mit dem Stühle und Container dekoriert sind, stirbt bereits vor Konzertbeginn den Hitzetod. Es wäre verständlich, wenn den Besucher*innen anstatt persönlichem Herzschmerz doch eher der Song «36 Grad… und es wird noch heisser» durch den Kopf schwirren würde.

«Ein wenig Bedenken hatten wir im Vorfeld ja schon», gesteht Hiromi ein. «Ob sich wirklich jemand trauen wird, in unbekannter Runde ein Liebesgedicht niederzuschreiben, das laut vorgelesen, über dessen Qualität das Publikum am Ende sogar noch abstimmen wird?» Doch trotz Hitze und neugieriger Blicke, die hinter der Hecke hervorschielen, haben 18 Besucher*innen ihren ganzen Mut zusammengenommen, um ihre persönlichsten Gedanken niederzuschreiben. «Natürlich ist es nicht möglich alle zu vertonen, deswegen haben wir beschlossen, dass das Publikum selbst die zwei besten auswählen soll, aus denen die beiden Musiker zwei völlig neue Stücke komponieren».

Am meisten Beifall können der Liebesbrief an Marie und die Ode an das kühle Nass des Lettens einheimsen, dicht gefolgt von einem Gedicht, das sich an Seawatch-Kapitänin Carola Rackete richtet. «Daran sieht man, was die Menschen gerade bewegt. Aktueller kann so ein Konzertabend eigentlich gar nicht sein», freut sich Hiromi Gut über die Kreativität und das Engagement der Teilnehmer*innen. «Und in der Abendsonne am Letten Liebesgedichte zu schreiben, ist doch allemal besser, als den Sonntag beim Tindern oder Tatortschauen in den eigenen vier Wänden zu verbringen», fügt sie mit einem Augenzwinkern hinzu.

Auch die beiden Musiker sind über die Hingabe und positive Resonanz überrascht. Unter tosendem Applaus erleben die beiden Gewinnergedichte ihre Uraufführung.

Ob es im kommenden Jahr eine Zugabe geben wird? «Auf jeden Fall!», unterstreicht Hiromi Gut. «In welcher Form genau, das wird sich noch zeigen.» Erwins nüchterne Liebeserklärung an Marie und die sommerliche Endorphinwolke zwischen Dynamo und Kornhausbrücke gäben sicherlich genug Stoff für eine Fortsetzung her.

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